Part 68 / 13. Januar 2011: Der ultimative Bruch! Dieser Moment holte mich ab. Mein Gott war ich deutsch! Ich danke der tunesischen Zivilbevölkerung für diese Erfahrung!

Wir haben immer noch den 13. Januar 2011. Nachdem Said und ich die Sachen von meiner Wohnung in Windeseile zu ihm rübergebracht haben und Said den Wagen Zouba wegbrachte, waren wir nun zu dritt in Saids Wohnung: Said, seine Mutter und ich. Es war Nachmittag und draußen war alles leer. Vom siebenten Stock aus sah man aus Saids Wohnung auf Soukra, dem Flughafen und auch bis hin zu Karthago und dem Lac.
Alles schien zuhause zu sein. Nichts war mehr auf der Straße. Kein einziges Auto. Alle Parkplätze waren leer – und ich verstehe bis heute nicht, wohin die ganzen Autos in so kurzer Zeit verschwunden sind.

Anspannung lag in der Luft – Vakuum. Was passiert gerade, wo und wie und warum? Wer nach einer Antwort gesucht hat, musste verzweifeln. Denn woher die Information entnehmen? Wir schalteten den Fernseher an und im staatlichen Fernsehen lief eine Dokumentation über die Geschichte der tunesischen Altstadt nach der Unabhängigkeit. Idylle eben. Als wäre sonst nichts los im Land.

Bei den Radiosendern waren es lediglich Shems FM und Express FM, die das Schweigen schon einige Tage zuvor gebrochen hatten und man hörte dort non stop nur noch Menschen, die sich zu Wort meldeten und von Korruptionsvorfällen und Missbrauch jeglicher Art berichteten. Die Menschen waren wütend, aufgebracht und hatten einfach die Schnauze voll von diesem mühsamen und ungerechten Leben.
Nach den zwei Jahren Tunesien konnte ich verstehen, wie sich das anfühlt, stetig an seine Grenzen zu kommen. Man kann schon vor die Hunde kommen, wenn man nicht im richtigen Zeitpunkt auf die richtigen Menschen stößt, die einem weiterhelfen. Ich merkte, dass ich bis zu diesem Zeitpunkt in ganz vielen Momenten verdammt viel Glück gehabt habe.

Viele Menschen fingen an, im Radio von den abgefackelten und gestürmten öffentlichen Gebäuden zu berichten. Und es war beeindruckend, wie sich alles kippte. Nicht die Journalisten berichteten.. nein, es waren die Menschen wie du und ich aus ihren kleinen Orten überall im Land. Eine Flut an lauten und hektischen Stimmen explodierte da aus dem Radio. Und niemand wusste so recht wohin und an wen diese Stimmen gerichtet waren. Zu wem sprachen sie? Mit welchem Ziel?
Das Ziel schien mir die eigene Person zu sein. Es wurde nicht über Politik oder über die Gesellschaft gesprochen. Nein! Es ging um die eignen Probleme im eigenen Leben. Jeder war sich nun wichtig.

Wir verfolgten die Nachrichten minütlich über Radio, AlJazeera, Facebook und Telefon. Meine Verwandten aus Tunis und Tazarka riefen mich an und ich rief sie an. Waren wir alle ok? Was hat sich in den einzelnen Vierteln getan? Irgendwas neues? Irgendeine Orientierung was nun kommt? Darum ging es in unseren Gesprächen. Am späten Nachmittag wurde es unruhiger, denn zwei Cousins von mir, die in Tazarka lebten, sind von der Nachbarstadt Nabeul nicht heimgekommen und waren auch telefonisch nicht erreichbar. Dann die Nachricht von Krawallen und Schüssen in Nabeul. Und dann von Toten. Wir waren sehr angespannt und jeder wünschte sich, dass es endlich ruhiger wird.

Was beeindruckend war, war dass die Mobilfunkgesellschaften nun anfingen an jedem Tag einen Dinar Guthaben an ihre Kunden zu verschenken. Wir erhielten eine SMS mit der Meldung, dass ein Dinars gutgeschrieben wurde. Es war Ausgangssperre und wenn draußen alles zu ist, kann man sich keine Guthabenkarten kaufen. Mit diesem Dinars, war man für den Notfall gerüstet.

Said zeigte mir die Nahrungsmittel in der Küche, die er als Vorrat besorgt hatte. Öl, Teigwaren, Wasser, Milch, Tomatenmark etc.. Alles, was man zum Überleben brauchte. Er war wirklich gut gerüstet…. im Gegensatz zu mir. Wir blickten uns an und mussten ein wenig schmunzeln. Gemeinsam hatten wir schon viele Abenteuer erlebt. Aber uns beide noch in genau dieser so unreal wirkenden Situation wiederzufinden, war schon nicht leicht zu verdauen. Was erlebten wir gerade? Keiner von uns hatte so recht eine Ahnung!

Am Abend dann die Ankündigung, dass der Präsident Ben Ali an die Nation sprechen wird. Wieder gingen die Anrufe und Nachrichten im Facebook kreuz und quer. Was wird er sagen wollen? Was steht uns bevor? Alle waren wir gespannt und beteten, dass es irgendwie ruhiger wird.

Es wurde dunkel und dann endlich kam diese Rede von Ben Ali, die mich sehr überraschte. Sie überraschte mich, weil die Sprache, in der er sprach, auch für mich auf Anhieb verständlich war. Der gesprochen tunesische Dialekt ist nicht identisch mit dem Hocharabischen. Die Nachrichten und öffentlichen Reden werden meist im Hocharabischen gesprochen. Doch an diesem Abend sprach Ben Ali in unserem Dialekt. Der erste Bruch für mich. Eine direkte Kommunikation. Ben Ali wollte von jedem verstanden werden und das erstaunte mich sehr. Dieses böse Etwas, was da seit 1987 über das Volk mit all seiner Härte regierte, schien nicht mehr stark zu sein, sondern irgendwie verzweifelt, labil und verängstigt.

Das musste man sich erst mal reinziehen. Die Unruhen kamen nicht von einer politischen Opposition, von keiner organisierten Bewegung – sie kam von den Kindern Tunesiens. Den jungen Menschen. Der Jugend. Den Hoffnungslosen. Jenen, die nichts anderes kennen, außer ein Tunesien unter Ben Ali. ….2011! …Wer im Jahre 1987 geboren wurde, wie meine jüngste Schwester Hind, war da schon 24 Jahre alt. Es war keine politische Inspiration, die diesem Wandel vorherging. Es war viel fundamentaler, viel tiefgreifender. Es war ein Motiv, was keiner Theorie bedarf, um kommuniziert oder erfasst zu werden. Es war die gelebte Wahrheit, die sich ein Zeitfenster gesucht hat, um im Kollektiv zum Ausdruck gebracht zu werden. Es war mit taktischem und strategischem Denken nicht zu verstehen und nicht zu erfassen. Es war, was es war – ein Schritt in Richtung einer anderen Zukunft. Einer Zukunft, die man selber nicht kannte.

Die berühmten Worte von Ben Ali waren „Ana fhimtkoum“, was so viel heißt wie, ich habe euch verstanden. Aber was da noch viel beeindruckender und für mich noch immer so verzerrt unreal erscheint, war, dass die Menschen untereinander anfingen, sich blind zu verstehen. Diese Kommunikationswelle untereinander war nicht mehr zu stoppen. Das Chaosprinzip erfüllte seinen Zweck, war unglaublich schnell, informativ, dezentral und sprengte alle im Land bestehenden Kommunkationsgrenzen. Jeder auch noch so hoffnungsloser Jugendlicher hatte ein Facebook-Konto und klinkte sich mit Infos über sein eigenes Viertel und seine eigene Stadt ein. Cyber war angesagt! Eindeutig, wir haben es mit einer Generation des 21. Jahrhunderts zu tun. Und genau das schien nun jeder verstanden zu haben. Die auferlegte mentale Kommunikationsblockade bekam ein subtiles technisches Instrument zur Überbrückung. Da war es nun: Das Facebook. Ein soziales dezentrales virtuelles Netzwerk.

Viele Menschen hegen viel Misstrauen gegenüber dem Facebook. Und ich finde auch zurecht. Aber es ist nun mal nicht zu leugnen, dass es einen Effekt auf Entwicklungsprozesse hat. Und dass sich entwickelnde soziale Bewegungen, sich dieses Instruments bedienen. Die Frage ist nicht, ob Facebook den arabischen Frühling ausgelöst hat. Die Frage ist, welche Funktion es für die Tunesier erfüllt hat! Was ermöglichte es, was sonst in der gelebten Realität nicht machbar war? Für mich war die Antwort klar: Zivile dezentrale Vernetzung. Zeitgleich, parallel und direkt. Die 1:1-Kommunikation. Sie ist schneller und direkter und holt jeden von dort ab, wo er sich gerade befindet. Ob im Aus- oder Inland, ob in der Stadt oder auf dem Land. Alles schien sich miteinander zu vernetzen und zu kommunizieren und alles schien sich aus seiner Identitätskathegorisierung hinauszubewegen.

Ben Ali versprach in seiner Rede, die Zensur aufzuheben. Alle blockierten Seiten seien ab sofort freigeschaltet. Said und ich hatten unsere Laptops geöffnet und auf dem Schoß. Das Facebook war natürlich an. Als Ben Ali das mit der Aufhebung der Zensur sagte, wurde das in der gleichen Millisekunde von zigtausenden jungen Tunesiern überprüft. Das Youtube lief wieder in Tunesien! Viele vorher gesperrte Videos konnten aufgerufen werden. Es wurde nach allen verbotenen Begriffen gegoogelt und überprüft, ob das stimmte, was der Ben Ali dort von sich gab. Und tatsächlich.. Said war verblüfft. Und ich hinkte mal wieder gedanklich hinterher. Denn ich verstand einen Begriff nicht, den ich da las und hörte. „Ammar 404“!

Im tunesischen Slang verpasst man den verschiedenen Instrumenten der Repression eigene Kosenamen. Und die Meldung, dass Seiten im Internet nicht aufrufbar sind, hatte nun mal genau diesen „Ammer 404“. Ammar ist ein männlicher Vorname und 404 die Nummer der Fehlermeldung. Ich musste schmunzeln. Eine neue Welt schien sich mir zu öffnen. Tunesien underground!

Dann gleich nach der Rede von Ben Ali kam eine Talkshow im staatlichen Fernsehen, in denen die Ankündigungen des Präsidenten, den demokratischen Wandel einzuleiten, als großer Erfolg gefeiert wurden. Mit in der Runde war die Leiterin von der regionalen Frauenorganisation CAWTAR, die ich im Frühling 2009 wegen meiner Vision eines grass-roots Arab Human Development Networks aufsuchte und die mir daraufhin sagte, dass zivile solidarische Vernetzung unter Arabern nicht möglich ist, weil wir ja alle Egoisten sind.
Was für ein Wandel in meinem Kopf. So viele kleine und unscheinbare Ereignisse, die ich zuvor erlebt hatte, gewannen an Qualität.

In mitten dieser Talkshow kam es zu einer Live-Schaltung auf die Innenstadt in Tunis – die Avenue Habib Bourguiba. Im Fernsehen sahen wir jubelnde Menschen mit Tunesienfahnen, die die Ankündigungen des Präsidenten feierten. Und ich dachte, so nun wird es ruhiger. Die Frage oder besser gesagt Befürchtung, die ich hatte war: Wie schafft man es, ohne den Mindestmaß an Strukturen einen demokratischen Prozess einzuleiten? Was, wenn Ben Ali gestürzt wird? Was dann? Wer ist legitimiert seine Position einzunehmen? Braucht man hierfür nicht doch erst mal die Einleitung eines demokratischen Prozesses unter Ben Ali – auch wenn er ein Despot ist?

Meine Gedanken waren schon sehr deutsch – schon sehr politkwissenschaftlich geschädigt. Doch Gott sei Dank war das bei den Tunesiern nicht der Fall. Sie wussten sehr genau, was sie wollten und machten auch keinerlei Kompromisse. Während ich noch über stabile Handlungsmöglichkeiten dachte, brachen überall im Lande nochmals die Unruhen aus. Ich war mehr als verwirrt. Hatten die denn keine Angst? Mit welchem Plan und welchem Ziel wurden die Unruhen weitergeführt? Wohin sollte das ganze führen? Gedanken, die anscheinend nur jemand haben kann, der in einem demokratischen Staat wie Deutschland aufgewachsen ist.

In Tunesien schien alles klar zu sein. Der Mist, der da oben regierte, musste weg. Denn aus Mist kann nichts Gutes entspringen.
So viel Mut muss man erstmal aufbringen und so viel Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen. Mein Gott war ich deutsch – ich dachte doch tatsächlich zuerst an Sicherheit.

Gnadenlos rechneten die Tunesier mit Ben Ali ab. Denn in seiner so tollen Rede beleidigte er das Volk zutiefst. Als Zeichen seines guten Willens wurden die Lebensmittelpreise runtergeschraubt. Es kam in den Nachrichten eine Liste mit den bevorstehenden Rabatten für Teigwaren, Öl und Eier. Wieder dieses Bild von den armen Tunesiern, den Entwicklungskonsumenten, die es zu füttern gilt. Doch der kleine Elefant war nicht mehr klein, sondern groß und mächtig. Die Menschen merkten: „Moment mal, was soll ich denn mit ein paar Dinar Einsparungen im Lebensmittelkonsum. Was ich will, ist nicht gnädig gefüttert zu werden. Was ich will, ist meine Funktion als wichtiger Entwicklungsproduzent dieses Landes wahrzunehmen, die das Regime seit einem Vierteljahrhundert blockiert.

Was nun auf den Straßen geschrien wurde, war „Khobz w ma w Ben Ali la!“. Das bedeutet: Brot und Wasser! Aber kein Ben Ali!“

Wow war das mächtig. Das war der Punkt an dem auch ich Gänsehaut bekam. Das war der Moment, der mich ergriffen hatte. Das war mächtig. Es war die Nacht vom 13. bis 14 Januar, die auch mich in den Sog des Wandels mitgerissen hatte. Ich erkannte mich wieder. Ich erkannte, mein Human-Entwicklungsdenken in der Haltung der tunesischen Zivilbevölkerung wieder. Sie brachen alle noch so hartnäckigen Theorien und negativen Selbstbilder in nur einer Nacht auf. Reich und arm, jung und alt.. nichts war mehr wichtig. Wichtig war nur eins: „Wir alle sind die Entwicklungsprduzenten Tunesiens. Kein Apparat. Kein Staat. Kein Präsident! Keine Partei! Kein Regime! Wir alle sind es. Wir Menschen!“

Ich weiß nicht, wie ich beschreiben soll, wie ich mich gefühlt habe. Das so mitzuerleben, veränderte mein Leben grundlegend. Was ich seit dem 11. September 2001 und in all den Jahren quälendem Studium und im Frühjahr 2009 an Außenseiter-Denken mitgetragen habe, hat Tunesien in nur einer Nacht zu einer unleugbaren Realität gemacht. Danke!

Es war als wäre ich von einer Welt in meine Welt gekommen. Ohne auch nur das geringste dafür zu machen. Als hätte ich einen normalen Schritt gemacht.. ein Schritt in dieselbe Richtung wie zuvor, nur war der Boden nun ein von grundauf anderer als zuvor.

In dieser Nacht ging es meinen Eltern und vorallem meinem Vater nicht gut. Zum einen sehnte er sich danach in Tunesien zu sein in solch einem historischen Moment, doch zum anderen sorgte er sich um mich. Meine Familie wollte, dass ich nach Deutschland fahre. Doch das kam für mich nicht in Frage. Niemand hat das Land verlassen. Die Fronten waren nun klar. Das Volk und das Regime. Mehr gab es da nicht. Keine einzige ausländische Institution wurde von der Zivilbevölkerung angegriffen. Kein einziger Deutscher der internationalen Entwicklungszusammenarbeit hat das Land zu dem Zeitpunkt verlassen. Sie waren solidarisch mit der tunesischen Zivilbevölkerung. Auch sie waren Teil und Zeugen dieses unfassbaren Ereignisses.
Das Gefühl, was uns vereinte war ehrlich. Die Solidarität war ab dem Zeitpunkt eins. Nichts spielte mehr eine Rolle, weder Rasse noch Religion noch Nationalität noch sonstwas. Es ging um den ultimativen Wandel. Und jeder wusste, nun gibt es keinen Weg zurück! In der Nacht vom 13. zum 14. Januar gab es kein Schlafen.

Nichts und niemand schlief. Weder im In- noch im Ausland. Tunesier und Araber in der gesamten Welt kommunizierten, was das Zeug hielt. Von Mensch zu Mensch. Nehmen wir unsere Zukunft nun selbst in die Hand?..
Viele sagen, es ging um Befreiung. Doch ich finde den Begriff Freiheit noch zu lasch. Denn es klingt so als würde man sich, von etwas losreißen. Es klingt so, als würde man mit einem Ereignis einen Zustand erreicht haben, den man Freiheit nennt. Doch für mich und viele andere war klar, es geht um Selbstbestimmung! Darum einen Weg einzuschlagen, in dem das Handeln nicht mehr den anderen obliegt, sondern einem selber. Einem Weg in dem die Zukunft nicht mehr in den Händen des anderen, sondern in den eigenen liegt.

Diese Nacht fühlte sich an, als wären wir alle in einer Wolke. Einer Rauchwolke. Sie wurde ernster als alles, was ich vorher erlebt habe. Sie war vereinend und weckte in den Menschen das Bedürfnis, sich nun zu bündeln und zu organisieren. In ihrem Handeln und Tun!

Fortsetzung folgt…

© Zeineb Ben Othman

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